Kneipps Ordnungstherapie
aus heutiger Sicht

Für mich ist Pfarrer Sebstian Kneipp einer der größten Pioniere seiner Zeit. Warum? Weil er den Menschen in seiner Ganzheitlich erkannte. Aus eigener Erfahrung und jahrelanger Beobachtung seiner Patienten bemerkte er, wie Leib und Seele in einem wechselseitigen Verhältnis miteinander verbunden sind. Diese Sicht war damals in medizinischen und kirchlichen Kreisen revolutionär, weil die Medizin sich nur um den Körper kümmerte und die Kirche um das Heil der unsterblichen Seele. >Kneipp hingegen sah beides miteinander verbunden: “Erst als man den zustand ihrer Seelen kannte und da Ordnung hinein brachte, ging es mit den körperkichen Leiden auch besser.”

SUCH NACH ANTWORT

Als ich Kurseelsorger in Bad Wörishofen wurde, stellte sich mir eine zentrale Frage, auf die ich nirgendwo eine zufriedenstellende Antwort fand: Was meint Kneipp eigentlich mit “Ordnung der Seele”? Zwar spricht er auch von einer Ordnung in der “Lebensführung” – etwa “nicht die Nacht zum Tag machen” oder “im Maß liegt die Ordnung, jedes Zuviel setzt an die Stelle der Gesundheit Krankheit”. Doch das ist ein anderes Theman, dort geht es im Allgemeine “Lebensordnung” – das, was wir heute als “Lifestyl” oder “Work-Life-Balance” bezeichnen würden.

Was aber meint Kneipp, wenn er von “Ordnung der Seele” spricht? Und wie kann diese “Ordnung der Seele” – quasi unseren “inneren Arzt” aktivieren und unsere Salbstheilungskräfte stärken? Genau das herauszufinden hat mich gereizt und auch dazu inspriert, das Buch zu schreiben: “Der ‘innere Arzt’ kann mehr als wir glauben. Kneipps Ordungstherapie aus heutiger Sicht.

GEENE LASSEN SICH DOCH STEUERN

Um eine Antwort darauf zu finden, möchte ich mit Ihnen eines Blick auf eines der spannensten Forschungsfelder unserer Zeit werfen: die Epigenetik. 2023 gelang es Molekularbiologen, das menschliche Genom zu entschlüsseln – also unser gesamtes Erbgut in seine genetischen Bauteile zu zerlegen. Das war ein verheißungsvoller Schritt. Denn der jetzt mögliche Blick in das Erbgut macht auch Vorhersagen möglich über genetisch bedingte Krankheiten. Dahinter steckt die Überzeugung: Gene bestimmen unser Leben.

Doch dann machen die Molekularbiologen und Boimediziner eine sensationelle Entdeckung: Wir sind unseren Genen gar nich so ausgelifert, wie bisher vermutet. Veranlagungen oder Anfälligkeiten für eine menge von Krakheiten müssen nicht zwangsweise eintreten. Denn, so bahnbrechende neue Erkenntnis: Unsere Gene lassen sich steuern.

Dafür zuständig ist ein sogenanntes Epigenom, das jetzt Wissenschaftler “neben” (griech.epi) dem schon bekannten menschlichen Genom entdeckten und das auch in dieser neuen Forschungsrichtung den Namen “Epigenetik” gegeben hat. Dieses Epigenom bestimmt welche Gene Quasi eingeschaltet werden oder nicht.

WIR STEUERN MIT

Heute wissen wir, dass viele Er­krankungen mit Veränderungen im Epigenom zusammenhängen, insbesondere Wohlstands- und Volkskrankheiten, Diabetes, De­pressionen, viele andere psychische Leiden, auch manche Krebsarten. Der Münchener Humanbiologe Heinrich Leonhardt sagte: ,,In je­der Krebszelle, die wir untersuchen, finden wir auch epigenetische Ver­änderungen.” Zuerst dachte man, diese epigenetischen Umbildungen seien eine Folge der Erkrankung, inzwischen weiß man, sie sind ihre Ursache.

Fest steht also: Wir haben ein Epi­genom, das die Aktivität unserer Gene steuert, ohne die genetischen Erbanlagen zu verändern. Und fest steht auch: Dieses Epigenom kann von uns gestaltet, reguliert, verän­dert werden. Die spannende Frage ist nun: Wie steuern wir diesen Ver­änderungsprozess? Was können wir – was müssen wir tun, um den epi­genetischen Schaltplan zu beeinflus­sen? Die Antwort ist überraschend: Bewegung, gesunde Ernährung, ausreichend Schlaf, Stressvermei­dung. Auch psychische Faktoren wie das Gefühl von Geborgenheit, Wert­schätzung oder meditative Übun­gen spielen eine Rolle. Sogar unsere Gedanken, die positive oder nega­tive Gefühle auslösen, hinterlassen Spuren im epigenetischen Code. Kurz um: Unser Lebensstil und unser psychisches Befinden – alles was wir tun, denken, fühlen, erleben hat eine Wirkung auf unsere Gesundheit.

MEHR ERLEBEN ALS BEGREIFEN

Dann folgte für viele die wohl größ­te Überraschung: Auch Spirituali­tät, Gebet und Glaube beeinflussen unser Epigenom direkt – all das also, was wir unter Religiosität verstehen. Die Veranlagung und Fähigkeit zur Religiosität gehören zur natürlichen Grundausstattung des Menschseins und sind tief in unserer Seele veran­kert. Dieses sehnsüchtige Verlangen nach Halt und Geborgenheit in Gott, das Suchen nach einem letzten Sinn­grund menschlichen Lebens, wie es auch in der Bibel thematisiert wird, auch das prägt unser Epigenom. Doch unabhängig von dieser epi­genetischen Wirkung passiert noch etwas Tiefergreifenderes: Wenn wir diese Ursehnsucht der Seele zulas­sen, dann eröffnet sich in ihr eine religiös-spirituelle Wirklichkeit, die mit Worten weder fassbar noch er­klärbar ist. Das ist ein Erleben von göttlicher Nähe, das nicht vom neu­ronalen Netzwerk unseres Gehirns verursacht wird und das auch nicht mit psychischen Funktionen ver­wechselt werden darf. Der Quanten­physiker Hans-Peter Dürr brachte es treffend auf den Punkt: ,,Wir erleben mehr als wir begreifen.”

EIGENE RELIGIÖS-SPIRITUELLE IDENTITÄT FINDEN

Göttliche Erfahrungen sind natürlich nicht auf katholische oder evangeli­sche Traditionen beschränkt – auch Menschen anderer Religionen oder Weltanschauungen können auf ihre eigene Weise „glauben” und „reli­giös sein”. Entscheidend ist, die ei­gene religiös-spirituelle Identität zu finden und zu leben.

Als Kurseelsorger durfte ich in un­zähligen Gesprächen erleben, wie intensiv viele Menschen nach dieser religiös-spirituellen Identität suchender sie vertiefen möchten. Dabei wurde mir bewusst, wie wichtig es ist, sie durch liturgische Rituale in besonderen Segnungsgottesdiens­ten oder durch eigens gestaltete Meditationsgottesdienste auf die­sem Weg auch zu begleiten.

DAMIT WESENTLIHUES NICHT FEHLT

Wir sprechen heute viel von der ,,Ganzheitlichkeit” des Menschen. Doch dabei vergessen wir oft, dass diese „Ganzheitlichkeit” erst dann wirklich „ganz” oder „komplett” ist, wenn auch diese religiöse Erlebnis­tiefe der Seele mit einbezogen wird. Genau hier zeigt sich für mich die Pionierleistung Kneipps. Sein Wort von der „Ordnung in der Seele” ver­langt eine „wirklich” ganzheitliche Sicht auf den Menschen. Damit hebt er einen Punkt hervor, den wir gera­de heute trotz aller physischen, psy­chischen und sozialen Aspekte einer Ordnungstherapie nicht außer Acht lassen dürfen: die Offenheit auch für das Unerklärbare – das wir erleben, ohne es ganz zu begreifen. Heute fällt auf, wie viel Anstrengung oft darauf verwendet wird, unter dem Deckmantel von Wissenschaftlich­keit oder Neutralität die unsterb­liche Seele loszuwerden oder sie auf bloße psychische Vorgänge zu reduzieren. Doch viele spüren inzwi­schen, dass da etwas Wesentliches fehlt.

Das heißt Kneipps Ordnungsthe­rapie ist nicht gleich Religion (auch wenn das gelegentlich so miss­verstanden wird) – doch eine Ord­nungstherapie ohne Offenheit für die religiös-spirituelle Erlebnistiefe der Seele, das wäre keine Ordnungs­therapie im Sinne Kneipps.

Quelle: Keller, Adalbert (2025) Kneippsche Ornungstherapie aus heutiger Sicht
in: Kneipp-Joutnal März/April 2025, S. 20ff